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Physik: Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik

Ein immer wieder gehörtes Argument gegen die Evolution lautet, sie widerspräche dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Auch wenn dieses Argument mittlerweile nur noch von populärwissenschaftlicher Seite verwendet wird, ein paar Kommentare dazu.

Tatsächlich geht das Argument des Zweiten Hauptsatzes auf die Diskussion um dessen Anwendbarkeit bis etwa zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zurück:

Es gibt wohl heute kaum einen Naturwissenschaftler, der daran zweifelt, daß für den materiellen Ablauf der Lebensvorgänge im Prinzip dieselben Gesetzmäßigkeiten gelten wie für Prozesse in der unbelebten Natur. Trotzdem hat eines der allgemeinsten Gesetze der Physik, nämlich der „Zweite Hauptsatz der Thermodynamik“ oder „Entropiesatz“, bis in die jüngste Zeit hinein zu Zweifeln hinsiehtlich der Anwendbarkeit auf lebende Systeme Anlaß gegeben, Biologen und Philosophen haben gemeint, der Zweite Hauptsatz mit seiner Prophezeiung des „Wärmetodes“ sei unvereinbar mit dem Phänomen der Strukturbildung in der Natur. Rolf Haase: Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik und die Strukturbildung in der Natur. Naturwissenschaften 44(1957):409-415

Häufig hört man auch aktuell noch als Entgegnung auf das Argument, der Zweite Hauptsatz widerspreche der Möglichkeit einer Evolution (also platt formuliert einer „Entwicklung hin zu mehr Ordnung“), der Zweite Hauptsatz gelte nur für geschlossene Systeme und sei daher irrelevant für biologische (per se offene) Systeme1). Demgegenüber bezieht schon Haase in seinem Beitrag von 1957 eindeutig Stellung:

Die moderne Formulierung des Zweiten Hauptsatzes […] besagt, daß die Entropieänderung eines beliebigen Systems stets in zwei Anteile zerlegbar ist. Der erste dieser Anteile beruht auf dem Wärme- und Stoffaustausch des Systems mit der Umgebung, kann demgemäß sowohl positiv als auch negativ sein und verschwindet bei thermischer Isolierung des Systems, also bei allen „adiabatischen“ Zustandsänderungen. Der zweite Anteil der Entropieänderung des Systems hat seine Ursache in den irreversiblen Prozessen im Inneren des Systems, ist demgemäß bei wirklichem Ablauf der Vorgänge stets positiv und verschwindet im Grenzfalle reversibler Zustandsänderungen. Die gesamte Entropie eines beliebigen Systems kann also sowohl zu- als auch abnehmen, und nur im Falle eines thermisch isolierten Systems und damit erst recht im Falle eines abgeschlossenen Systems wird die gesamte Entropieänderung mit dem zweiten Anteil identisch, so daß hier die Entropie des Systems nicht abnehmen kann. Haase, a.a.O.

Entscheidende Schlagworte sind der „stationäre Nichtgleichgewichtszustand“ oder kürzer „stationärer Zustand“, (identisch mit dem Begriff „Fließgleichgewicht“, engl. steady-state) und die „Thermodynamik der irreversiblen Prozesse“ sowie das „offene System“, das mit seiner Umgebung Energie und Materie austauscht2). Herausragende Namen, die mit der Entwicklung dieser „Thermodynamik irreversibler Prozesse“ verbunden sind, sind Lars Onsager und Ilya Prigogine (beides Nobelpreisträger).

Bei einem System gegebener Masse, das sich in einem stationären Nichtgleichgewichtszustand befindet, muß auch die Entropie zeitlich konstant sein. Da infolge des ständigen Ablaufs von irreversiblen Prozessen im Inneren des Systems die Entropieerzeugung stets positiv ist, muß die Entropieströmung negativ sein. Der Wärme- und Stoffaustausch mit der Umgebung ist also so geregelt, daß insgesamt eine „Einfuhr negativer Entropie“ stattfindet. […]

Vom thermodynamischen Standpunkt stellt ein Lebewesen – auf Grund des Stoff- und Energieaustausches mit der Umwelt und der im Organismus ablaufenden chemischen und anderen Vorgänge – ein offenes System dar, in dessen Innerem sich ständig irreversible Prozesse abspielen. […]

Die für den stationären Zustand des ausgewachsenen Lebewesens notwendige negative Entropieströmung kommt außer durch Wärmeabgabe an die Umwelt durch Ein- und Ausfuhr von Materie zustande.

Haase, a.a.O.

Aus den zitierten Passagen wird deutlich, daß schon Mitte der Fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts das Argument, der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik widerspreche der Evolution, wissenschaftlich widerlegt war:

Wir können zusammenfassend folgende Tatsachen festhalten:

1. Die Ausbildung von Strukturen kommt auch in der unbelebten Natur vor und steht im Einklang mit den Aussagen des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik.

2. Die für den Ablauf von irreversiblen Prozessen betrachtete in beliebigen Systemen charakteristische Größe ist nicht die Entropie oder irgendeine andere Zustandsfunktion (Freie Energie usw.), sondern die Entropieerzeugung, die – außer im Gleichgewicht – stets positiv ist, und dies gilt auch für biologische Systeme.

Haase, a.a.O.

Sogar das Gegenteil ist richtig. Mit der Entwicklung der „Thermodynamik irreversibler Prozesse“ u.a. durch Onsager und Prigogine wurde erst verständlich, wie geordnete Strukturen („dissipative Strukturen“) entstehen können – was in der Folge auch experimentell bestätigt werden konnte (u.a. Bénard-Zelle).

Disspiative Strukturen sind stabile geordnete Strukturen, die in einem offenen energieumsetzenden nichtlinearen System oder einem Teil eines solchen Systems unter ständiger Energiezufuhr und Energieabgabe, also innerhalb eines ständigen Energiestroms, gebildet und aufrechterhalten werden können.

Dissipative Strukturen treten nur unter Bedingungen auf, die als gleichgewichtsferne nichtlineare Nichtgleichgewichtsthermodynamik beschrieben werden. Sie befinden sich meist in einem dynamischen Gleichgewicht von zufließender und abfließender Energie und können durch innere Umsetzungsprozesse einen Teil der durchfließenden Energie speichern und einen Teil des Energieflusses verzögern. Sie sind gegenüber kleinen Störungen stabil.

Dissipative Strukturen besitzen viele Gemeinsamkeiten mit biologischen Organismen, weshalb Lebewesen auch meist zu diesen gezählt werden. Die Erdoberfläche inklusive der Atmosphäre bildet ein gleichgewichtsfernes energieumsetzendes (dissipatives) System, dass durch die Sonneneinstrahlung Energie aufnimmt und durch Wärmeabstrahlung in dem Weltraum abgibt. Innerhalb dieses Systems kann sich eine Vielzahl dissipativer Strukturen bilden, wie zum Beispiel Wolken, Flüsse oder Wirbelstürme, aber zumindest vom Standpunkt der Thermodynamik aus grundsätzlich auch biologische Systeme.

Literatur

  • Rolf Haase: Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik und die Strukturbildung in der Natur. Naturwissenschaften 44(1957):409-415
  • Stuart A. Kauffman: The Origins of Order. Self-Organization and Selection in Evolution. Oxford University Press, Oxford, New York, 1993
1)
So z.B. Futuyma in: Douglas J. Futuyma: Evolution. Sinauer, Sunderland MA, 2005, S. 533
2)
im Gegensatz zum in der „klassischen Thermodynamik“ meist betrachteten „geschlossenen System“, das von seiner Umgebung isoliert ist
argumente/zweiterhauptsatz.txt · Zuletzt geändert: 2017/12/09 21:27 (Externe Bearbeitung)