"Das, was gesagt ist" - Überlegungen zu den Grundlagen der Hermeneutik

Zusammenfassung: Die Ansicht, man könne durch bloßes Lesen der Bibel und möglichst wörtliches Verständnis der Aussagen zu einer gültigen und von anderen „Quellen“1) unabhängigen Interpretation der Texte kommen, ist eine Illusion. Einige der dieser (letztlich naiven) Ansicht zugrundeliegenden Grundlagen, derer sich ihre Vertreter meist nicht bewußt sind, werden hier angesprochen.

Gerade in der Diskussion mit Menschen mit evangelikalem Hintergrund begegnet man immer wieder einer extrem wörtlichen Auslegung der Bibel. Hinzu kommt, daß diese Auslegung oft als geradezu zwingend angesehen wird, wolle man dem Sinn des Textes gerecht werden. Weitgehend ausgeblendet wird dabei, daß diese Position eine ganze Reihe folgenschwerer Grundprämissen braucht, über die sich die meisten ihrer Vertreter augenscheinlich keine Gedanken machen.

Ziel dieser Ausführungen ist, einige Schwierigkeiten und vor allem Vorausetzungen der spezifisch evangelikalen Position zur Schriftauslegung (Hermeneutik) aufzuzeigen. Letztlich ist es gerade diese Herangehensweise an die Bibel, die zu den grundlegend verschiedenen und offensichtlich unvereinbaren Positionen zwischen evangelikalen Evolutionskritikern und Evolutionsbefürwortern2) führt.

Die folgenden Ausführungen entstanden im Kontext einer ausführlicheren schriftlichen Diskussion. Ich habe mich bemüht, jeglichen persönlichen Bezug zu entfernen, den Charakter einer direkten Bezugnahme auf geäußerte (und hier anonym wiedergegebene) Positionen aber beibehalten. Einige Argumentationsweisen und Beispiele nehmen ohne weitere Erklärungen direkt Bezug auf den evangelikalen Kontext.

Ausgangspunkt

Zunächst möchte ich eine Aussage zitieren, wie sie stellvertretend für Viele die Ansichten zur Schriftauslegung innerhalb evangelikaler Kreise zusammenfaßt. Dieser Aussage vorangegangen war die These meinerseits, daß unser Verständnis dessen, was der Text sagt, letztlich immer nur unsere persönliche Auslegung ist, daß wir trotz aller Versuche der Objektivität nicht umhin können, den Text vor unserem persönlichen Hintergrund mit unseren persönlichen Erfahrungen zu lesen.

Wenn man gar nicht wissen könnte, ob man die Bibel richtig versteht, könnte man es ja gleich bleiben lassen. Ich rede jetzt von Dingen, die klar und oft gesagt werden. Natürlich kann ich mich irren. Wenn jemand meint, das sei der Fall, kann er es mir anhand des Wortes zeigen. Darüber kann man dann reden. Wenn dann aber kommt „Die Wissenschaft hat bewiesen, dass … und daher muss man die Bibel anders verstehen“, dann zählt das nicht in Bezug auf das, was die biblischen Texte sagen. Dann liegt eben ein Widerspruch vor.

Es gibt sicher viele Dinge, in der die Heilige Schrift nicht so klar ist, wo es Auslegungsspielräume gibt. Es ist aber doch oft so, dass der klare Textsinn abgelehnt wird. Wenn davon Basics des christlichen Glaubens betroffen sind, kann ich einpacken, dann habe ich keine Basis mehr, sondern nur noch „Gummiparagraphen“. Wenn textfremde hermeneutische Schlüssel verwendet werden, dann hat dieser Schlüssel das Sagen und nicht der Text. Der Preis ist Orientierungslosigkeit. Es gibt auch einen Preis für die Vorrangstellung des Textsinns: Man begibt sich in Gefahr, unglaubwürdige Dinge zu glauben. Naja, das ist ja leider Realität.

Vorweg möchte ich ein paar dieser Aussagen noch einmal hervorheben und kurz meine Schwierigkeiten damit andeuten, bevor ich dann in größerem Detail auf die gesamte Thematik eingehe:

  • „Ich rede jetzt von Dingen, die klar und oft gesagt werden.“
    Klar ist subjektiv. Betrachtet man die einzelnen Stellen in ihrem jeweiligen Kontext (für einige der Passagen s.u.), sind sie weitaus weniger klar bzw. argumentativ viel schwächer.
  • „das, was die biblischen Texte sagen“
    Das, was die biblischen Texte sagen, ist immer Auslegungsfrage. Es gibt keinen direkten Zugang zur Textaussage, es ist grundsätzlich unsere Interpretation. Bei den biblischen Texten kommt erschwerend hinzu, daß sie vor langer Zeit in einer uns vollkommen fremden Kultur geschrieben wurden. Für Details s.u.
  • „Dann liegt eben ein Widerspruch vor.“
    Das entsprechende Textverständnis vorausgesetzt ist das dann wohl so. Und das Primat auf dem entsprechenden (persönlichen) Verständnis des biblischen Textes vorausgesetzt ist das dann auch das Ende jeglicher (fachlichen) Diskussion.
  • „Es ist aber doch oft so, dass der klare Textsinn abgelehnt wird.“
    Zum „klaren Textsinn“ s.o. Das, was wir mit „klarem Textsinn“ meinen, ist sehr stark in unserer persönlichen Geschichte und Situation verwurzelt, sowohl intellektuell als auch kulturell.
  • „Wenn textfremde hermeneutische Schlüssel verwendet werden, dann hat dieser Schlüssel das Sagen und nicht der Text. Der Preis ist Orientierungslosigkeit.“
    Unser kultureller Hintergrund, vor dem wir die Bibeltexte auslegen, ist ebenso ein „textfremder hermeneutischer Schlüssel“, siehe dazu die gesamte Auslegungsgeschichte, inklusive Brüderbewegung, Pfingstbewegung etc. Jede Zeit legt die Texte auf ihre Art aus.

Die meisten der oben aufgeführten Punkte lassen sich mit hoher Sicherheit aus evangelikaler Sicht argumentativ begründen. Die Frage ist nur, inwieweit man zu befriedigenden Begründungen kommt. Aber das ist letztlich in hohem Maße eine personenspezifische und nicht allgemein zu beantwortende Frage.

Letztlich bin ich mir dessen bewußt, daß für eine faire und detaillierte Auseinandersetzung zu all den hier von mir angerissenen Themen weder meine Zeit noch meine Kompetenz ausreicht. Was mich zu dieser Synopse bewegt, ist der Versuch, auf immer wieder gehörte Einwürfe (siehe obiges Zitat) einzugehen und zu versuchen darzustellen, welche grundlegenden Schwierigkeiten sich für mich daraus ergeben.

"Das, was die Texte sagen"

Immer wieder wird betont, es gehe um das, „was die Texte sagen“, man dürfe keine „textfremden hermeneutischen Schlüssel“ anwenden.

Wenn man zum obersten hermeneutischen Kriterium erhebt, nur der Text lege den Text aus (so verstehe ich Passagen wie die, man dürfe keine „textfremden hermeneutischen Schlüssel“ anlegen, und dieses Verständnis entspricht auch meiner eigenen Erfahrung aus ca. 10 Jahren in diesem Umfeld), dann gibt es eine Reihe zu klärender Fragen, in Folge zunächst einmal in Stichpunkten aufgeführt:

  • Kanon
    • Umfang/Entstehung/Vollständigkeit
    • strittige Passagen/Bücher (alttestamentliche Apokryphen, Jak, Mk 16,9-20)
  • Textgattung der jeweiligen Texte/Passagen/Bücher
  • Entstehungsgeschichte des Textes und kultureller Hintergrund
  • uns heute vorliegende Textbasis: Wie nahe am Original? (unterschiedlich für AT und NT)
  • Überlieferungsgeschichte
    • NT: zwischen Golgatha und Evangelienniederschriften liegen *mindestens* 20 Jahre (extrem konservative Schätzungen gehen von immerhin 15 Jahren aus, normalerweise liegen die Schätzungen deutlich über 20 Jahren).
  • Autorschaft
    • Inspiration
    • Unfehlbarkeit/Irrtumslosigkeit

Nachfolgend möchte ich einzelne Aspekte etwas weiter vertiefen. Aus meiner Sicht braucht man auf all die zahlreichen grundlegenden Fragen, die sich aus den oben stichpunktartig aufgeführten Aspekten ergeben, zumindest Erklärungsansätze, um von einem tragfähigen Fundament sprechen zu können.

Kanon

Zunächst einmal ist wichtig zu wissen: Welche Texte gehören denn alle zur Bibel? Das ist gar nicht so einfach, wie das auf den ersten Blick scheinen mag:

  • Der AT-Kanon wurde erst in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten von jüdischen Gelehrten festgelegt.
  • Was ist mit den alttestamtlichen „Apokryphen“, wie sie in der katholischen Bibel fester Bestandteil sind und auch in vielen Lutherbibeln auftauchen? (u.a. Stücke zu Esther, Buch Tobit, Makkabäer, Daniel 13, …)
  • Was ist mit dem Jakobusbrief, den Luther am liebsten verbrannt hätte (zumindest sagt man ihm das nach, weil der Jakobusbrief in einigen Aspekten im Widerspruch zum Römerbrief zu stehen scheint)?
  • Was ist mit dem verlorengegangenen Korintherbrief, der nach Textbefund von 2Kor eindeutig von Paulus zwischen 1Kor und 2Kor geschrieben wurde? War der nicht inspieriert? Oder unwichtig? Oder ist er verlorengegangen (wenn ja, wie verträgt sich das mit der Annahme, Gott habe über die Entstehung seiner heiligen Schrift gewacht)?
  • Was ist mit den Schlußversen aus Mk (16,9-20)? Gerade diese Verse beinhalten sehr fragwürdige Aussagen, die manchem den Tod gebracht haben, weil er eben versuchte, Schlangen aufzuheben etc. und das nicht überlebte. Tatsächlich ist es mehr oder weniger Konsens (auch in evangelikalen Kreisen), daß diese Verse eine spätere Hinzufügung sind.
  • Wer hat den NT-Kanon festgelegt, und nach welchen Kriterien?
  • Der Hebräer-Brief wurde erst dann als kanonisch akzeptiert, als er von einem der Kirchenväter Paulus zugeschrieben wurde. Die einzige Einigkeit, die heute weitgehend in der Frage der Autorschaft dieses Briefes herrscht, ist, daß Paulus nicht der Autor des Hebräerbriefes war.

Gehen wir redlich an die Frage des Kanons heran, sollte zumindest das Ergebnis sein, daß die Festlegung des Kanons nicht so zwangsläufig und selbstverständlich war, wie man das auf den ersten Blick vielleicht annehmen könnte. Es gibt durchaus berechtigten Anlaß zur Frage, ob in unserer heutigen Bibel alle inspirierten Texte zusammengetragen sind (Vollständigkeit) und ob nicht vielleicht die eine oder andere Passage doch eine nachträgliche Beifügung ist (z.B. Mk 16,9-20).

Textgattung und Entstehungsgeschichte

Das nächste große Problem ist, daß wir meinen, „den klaren Textsinn“ durch einfaches Lesen erfassen zu können. Das ist aber eine (Glaubens-)Überzeugung, die sich einerseits mit klar formulierbaren Argumenten hinterfragen und andererseits letztlich nur schwer begründen läßt. Wie können wir uns also sicher sein zu wissen, was das ist, „was die biblischen Texte sagen“? Wir wissen immer nur, was wir meinen (oder glauben), daß die biblischen Texte sagen. Das ist aber ein großer Unterschied. Schon unser Lesen des Textes aus unserem persönlichen und kulturellen Hintergrund heraus ist eine Auslegung - der wir uns viel zu selten bewußt sind.

Gerade zur Frage des Textsinnes: Sind die Tage in Gen 1 allegorisch oder wörtlich gemeint? Der Text wirft eine ganze Reihe von Problemen auf, wenn man versucht, ihn wörtlich zu nehmen (u.a. ist es aus astronomisch-kosmologischen Gesichtspunkten unmöglich, daß die Erde vor der Sonne existiert. Das Sonnensystem ist die Voraussetzung für die Existenz einer stabilen Erde, sonst gäbe es da nichts - aber das nur als ein Beispiel unter vielen). Außerdem ist er sprachlich nicht so geschrieben - zumindest sagen das Menschen, die die hebräische Sprache etwas kennen, und durchaus auch Menschen, die sehrwohl „bibeltreu“ sind -, daß man ihn als Bericht verstehen kann, sondern vielmehr als Allegorie.

Will der Schöpfungsbericht in Gen 1 vielleicht gar keine Beschreibung liefern, sondern vielmehr durch seine kunstvolle Form die eine Aussage transportieren: Dieser hier beschriebene Gott ist derjenige, der alles ins Dasein gerufen hat. Das autorisiert ihn, das begründet auch die Hoffnung, daß er uns aus unserer gegenwärtigen Situation herausführen wird.

Für eine solche Auslegung spricht, daß selbst nach konservativen Vorstellungen der erste „Redakteur“ dieser Texte Mose gewesen ist. Weniger konservative Vorstellungen gehen davon aus, daß die Redaktion dieser Texte erst im babylonischen Exil stattfand. Aber man kann sich bequem auf die erstere Position zurückziehen und trotzdem nahelegen, warum Gen 1 in erster Linie durch die kunstvolle Sprache eine schlichte Aussage transportieren wollte: Unser Gott ist groß. Daß es fernerhin gerade nicht Idee des Textes ist, einen Bericht zu geben, wie die Schöpfung abgelaufen sein soll.

Andere Beispiele wären: Die Psalmen sind Gebete, Ausdruck des Zwiegesprächs eines Gläubigen mit seinem Gott, aber bitte keine Ansammlung von Dogmen oder Lehraussagen. Deshalb ist es gefährlich, einzelne Verse oder Passagen der Psalmen herauszugreifen, um daraus Lehren zu machen. Sicherlich geben diese Passagen das Verständnis des jeweiligen Psalmisten wieder, aber das ist ein Unterschied.

Die Evangelien sind Beschreibungen einer Person in ihren Handlungen, aber keine Lehrtexte. Nicht umsonst werden die meisten Aspekte theologischer Lehrpositionen mit Passagen aus den Briefen belegt. Die Apostelgeschichte ist hier keine Ausnahme: Das ist ein Reisebericht und ein Bericht, was in den ersten Gemeinden passierte, aber bitte keine Anweisung, es genauso zu machen. Ein Bericht ist noch keine Blaupause.

Aber auch die neutestamentlichen Briefe sind in den allerwenigsten Fällen Lehrbriefe, die klare und allgemeingültige Handlungsanweisungen für die Christen aller Zeiten geben wollen. Wieviel Leid wurde durch falsche Auslegung insbesondere der Korintherbriefe schon erzeugt - weil die Auslegenden sich einfach nicht bewußt waren, daß Paulus hier ganz konkret in eine uns nur sehr unzureichend durch die einzelnen Passagen zugängliche Gemeindesituation in der damaligen Zeit hineinspricht.

Eine etwas weitergehende Auseinandersetzung mit dieser Thematik findet sich am Ende dieses Essays, zu den Aussagen der Bibel, daß Gott der Schöpfer sei. Dort versuche ich, auf einige der gängigen herangezogenen Passagen einzugehen und sie jeweils kurz hinsichtlich Textgattung und Kontext zu betrachten.

Textbasis und Überlieferungsgeschichte

Vorweg die einfachere Thematik: Der uns heute vorliegende neutestamentliche Text ist mit sehr hoher Sicherheit bis in die kleinsten Details mit sehr wenigen Ausnahmen Wort für Wort der Text, der ursprünglich aufgeschrieben wurde. Das ist zumindest das, was die Textforschung der letzten zweihundert Jahre (Nestlé-Aland et al.) nahelegt.

Hinsichtlich der Textbasis des AT sieht die Sache deutlich weniger gut aus. Die ältesten komplett erhaltenen Texte sind ca. 1000 Jahre alt. Sicherlich: Durch die Funde von Qumran und den dadurch möglichen Vergleich z.B. der Jesaja-Rolle mit den ca. 1000 Jahre jüngeren Texten läßt sich extrapolieren, wie hoch die Abweichungen ungefähr sein könnten. Dazu kommt noch die jüdische Tradition der Weitergabe der Schrift, die Fehler und Abweichungen minimiert. Trotzdem können wir uns insgesamt deutlich weniger sicher sein, insbesondere wenn es uns auf bestimmte Passagen und genauen Wortlaut angeht (einmal abgesehen davon, daß die Übersetzung gerade des AT einen immensen Spielraum offenläßt). Die Septuaginta zeichnet jedenfalls an manchen Stellen ein leicht anderes Bild als der uns bekannte hebräische Text.

Interessanterweise beziehen sich Jesus und die neutestamentlichen Autoren meist auf die Septuaginta, die nachweislich Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten enthält. Ist sie deshalb autorisiert oder inspiriert?

Die Überlieferungsgeschichte des AT läßt sich vermutlich nur noch sehr schwer nachvollziehen. Zum NT bleibt festzuhalten: Zwischen Golgatha und Evangelienniederschriften liegen *mindestens* 20 Jahre (extrem konservative Schätzungen gehen von immerhin 15 Jahren aus, normalerweise liegen die Schätzungen deutlich über 20 Jahren). Sicher, die Antike hatte ein vom heutigen deutlich unterschiedenes Verständnis von Zitaten und der Wiedergabe direkter Rede. Trotzdem bleibt die Frage, wie die Lehren Jesu über so lange Zeit mündlicher Überlieferung unverändert überlebt haben.

Der einzige Evangelist, dem man zuweilen unterstellt, Historiker im besten Sinne der damaligen Zeit (in Nachfolge von Thukydides) gewesen zu sein, ist Lukas, und tatsächlich gibt es manchen Hinweis darauf, daß er das, was er aufschrieb, bei Augenzeugen recherchiert hatte - aber auch das war vermutlich nicht vor dem Jahr 60 n.Chr.

Interessant ist diesbezüglich auch das thematische Auseinanderklaffen der Evangelien einerseits und der Briefe andererseits. Die Evangelien wollen in erster Linie das Bild einer Person zeichnen, die Briefe sind zum allergrößten Teil konkrete Handlungsanweisungen für konkrete Situationen in konkreten Gemeinden des ersten Jahrhunderts. Deshalb ist auch bei den Briefen größte Vorsicht geboten, wenn man wahlfrei Aussagen als allgemeingültig hinstellt.

Inspiration und Unfehlbarkeit/Irrtumslosigkeit

Zwei Passagen des Neuen Testamentes werden normalerweise für die Bestätigung der Lehre der Verbalinspiration herangezogen: 2Tim 3,16-17 und 2Petr 1,21. Zunächst ist einmal interessant festzuhalten, daß diese beiden Passagen selbst Teile des NT sind - und sich daher schon einmal nicht auf die gesamte uns heute vorliegende Bibel beziehen können, da sie geschrieben wurden, bevor es so etwas wie ein Neues Testament überhaupt gab - oder einer der Schreiber, Paulus bzw. Petrus, daran gedacht hätte, daß es so etwas einmal geben könne.

Eine sehr umfangreiche Behandlung der ganzen Frage nach Inspiration und Unfehlbarkeit/Irrtumslosigkeit der Schrift aus evangelikaler Sicht liefern die Chicago-Erklärungen, und darauf kann und möchte ich aus Zeit- und Platzgründen hier nicht im Detail eingehen.

Zum Kontext von 2Tim 3,16-17: „Alle Schrift“ bezieht sich hier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf das Alte Testament - und nur auf das Alte Testament. Das leite ich aus dem unmittelbar vorangehenden Vers her: „und weil du von Kind auf die heiligen Schriften kennst, die Kraft haben, dich weise zu machen zur Errettung durch den Glauben, der in Christus Jesus ist.“ Timotheus kann von Kind auf nur die Schriften des AT kennen. Das NT gab es zu dieser Zeit noch nicht. Der Verweis auf Christus ist hier ja kein Widerspruch, da er aus dem Blick eines Paulus ja notwendigerweise aus dem AT folgt. Paulus selbst hatte ja - wenn man die Überlieferung der Apostelgeschichte heranzieht, zu den Füßen eines der damals größten jüdischen Gelehrten gelernt. Der Kontext der Timotheus-Stelle ist auch hier keineswegs Inspiration der Schrift, sondern Ermutigung, am Glauben festzuhalten - und ein Teil dieser Ermutigung ist eben der Verweis auf die Schriften (des AT).

Die Passage aus 2Petr legt tatsächlich nahe, daß der Autor dieses Briefes die (göttliche) Autorschaft der Schrift im Blick hat. Allerdings erstreckt sich auch diese Passage in ihrer Aussage durch ihren Kontext nur auf das AT und die Erlebnisse Petri selbst. Man könnte soweit gehen, ihm hier zu unterstellen, daß er für sich selbst göttliche Autorität in Anspruch nimmt. Auf jeden Fall ist der Kontext des gesamten Briefes und dieser Stelle im Besonderen klar: Petrus bereitet die Adressaten auf die Zeit nach seinem Tod vor - und er setzt noch einmal alles daran, daß sie daran festhalten, was er sie lehrte.

Die ganze Komplexität eines Konzeptes der Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Schrift findet jedenfalls keinen Rückhalt in der Schrift selbst. Es ist ein von außen an die Schrift herangetragenes Konzept.

Fazit

„Wenn davon Basics des christlichen Glaubens betroffen sind, kann ich einpacken, dann habe ich keine Basis mehr, sondern nur noch „Gummiparagraphen“. Wenn textfremde hermeneutische Schlüssel verwendet werden, dann hat dieser Schlüssel das Sagen und nicht der Text. Der Preis ist Orientierungslosigkeit.“

Letztlich läuft diese Position darauf hinaus, daß man all die kritischen Fragen, die man (zurecht) an diese Auslegungspraxis stellen kann, nicht stellen darf. Man muß halt im Glauben annehmen, daß es so ist, wie dort geschrieben steht (bzw. wie das ausgelegt wird, was dort steht - Textsinn ist immer auch entscheidend eine Frage der angenommenen Textgattung, s.o., und die steht nicht am Text dran). Das bedeutet aber in letzter Konsequenz ein Verzicht auf den eigenen Intellekt, auf die Fähigkeit und Möglichkeit, Dinge kritisch und ergebnisoffen zu hinterfragen.

Wenn man jetzt boshaft ist: Entweder diese Theologie/Position ist falsch, oder der Gott, der dahintersteht, ist ein Sadist, da er den Menschen mit Fähigkeiten ausgestattet hat, die ihm nur schaden - Fähigkeiten, die den Menschen tatsächlich in der gesamten belebten Welt einzigartig machen: das Vermögen zu denken und Dinge kritisch zu hinterfragen.

Ich bleibe bei meiner Meinung: Die Aussage „dann hat dieser Schlüssel das Sagen und nicht der Text“ wirft das Problem auf, daß sie voraussetzt, daß wir einwandfrei feststellen könnten, was „der Text“ denn sagt. Das halte ich in epistemologischer Hinsicht aber nicht für gegeben. Wir sind immer nur auf unsere Auslegung des Textes zurückgeworfen. Die Bandbreite der Auslegung selbst für das praktische Leben bedeutsamer Textstellen3) ist auch innerhalb der „bibeltreuen Christenheit“ sehr breit, genauso wie es innerhalb der „bibeltreuen Christenheit“ diverse Auslegungen zu Themen wie den Schöpfungsberichten gibt - die gerade von Evolutionskritikern häufig als „Basics“ bezeichnet werden.

Gott als Schöpfer - Zeugnisse der Bibel

Die Zahl der Passagen in der Bibel, die eindeutig von Gott als dem Schöpfer reden, sind gar nicht so groß, wie es scheint. Ein paar Kommentare zu Stellen, die mir spontan einfallen:

Schöpfungsberichte (Gen 1&2)

Die Schöpfungsberichte sind eine schwierige Angelegenheit in der Frage ihrer Textgattung. Der „erste Schöpfungsbericht“ ist aufgrund seiner gesamten Struktur mit hoher Sicherheit ein poetischer Text und keine Beschreibung von Tatsachen. Die Aussage beider Texte ist klar, und die ganze „Urgeschichte“ liefert ja geradezu eine (nachträglich hinzugefügte?) Präambel, um das Wirken des Gottes der Urväter (Abraham, Isaak, Jakob) verständlich zu machen, um die es ja eigentlich in 1.Mose geht.

Psalmen

Die Psalmen sind definitiv poetische Texte. Hier geht es m.E. bei Aussagen über die Schöpfung um eine Rückversicherung des Psalmisten bzw. darum, die Größe Gottes zum Ausdruck zu bringen.

NT: Stammbäume Jesu (Mt, Lk)

Mt wendet sich an Menschen jüdischen Hintergrundes. Darüber sollte sich anhand des reinen Textbefundes (ständiger Bezug auf jüdische Feste und Gegebenheiten etc.) Einigkeit erzielen lassen. Der Stammbaum in Mt 1 ist zum einen unvollständig und zum anderen hochgradig symbolisch: Er will Jesus als Messias legitimieren, indem er ihn in eine Reihe mit den Urvätern und David stellt. Hieraus könnte man ableiten, daß die Juden ihren Gott immer als den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ verstanden haben, wie es schon in 2Mo als Formel vorkommt (aber eben nur in zweiter Linie als Schöpfergott). Besondere Bedeutung bekommt diese Formel zusätzlich dadurch, daß sie am Anfang dessen steht, was man als Gründungsmythos des „Volkes Israel“ bezeichnen könnte: Mose als derjenige, der die zum Volk herangewachsenen Nachkommen Isaaks aus Ägypten herausführt.

Der Stammbaum in Lk ist wesentlich detaillierter als der in Mt, allerdings muß man erst einmal erklären, warum sie unterschiedlich sind (ich weiß, eine gängige Erklärung ist die, daß Mt den Stammbaum Josefs, Lk den Stammbaum Marias beschreibt und damit beide Eltern Jesu aus dem Stamm Davids sind. Nur: Belege gibt es dafür keine, weder im Text noch in der Überlieferung).

Römer

Röm 1: Gott kann anhand seiner Schöpfung erkannt werden. Schwieriges Thema, hatten wir bereits diskutiert. Taugt m.E. nicht, um irgendeine belastbare Aussage zu machen. Wichtig auch hier: Kontext und Zielgruppe. Paulus will hier doch keine Apologetik betreiben, sondern Gläubige ihres Glaubens rückversichern. Die Adressaten Pauli in Rom sind ja keine Ungläubigen.

Röm 5: Zugegeben, Röm 5 ist vermutlich die Stelle, die wie keine zweite die „biblische Urgeschichte“ mit den Ereignissen auf Golgatha in Beziehung setzt. Aber auch hier muß man sich fragen: Was ist die Aussageabsicht Pauli mit diesen Versen? Will er uns eine Bibelstunde über die biblische Urgeschichte halten? Wohl kaum. Es geht ihm hier um die Größe der Gnade Gottes, wie eigentlich fast nur in den ersten elf Kapiteln des Römerbriefes. Ja, ich bin mir dessen bewußt, daß Paulus hier (und ebenfalls in Galater und Epheser) eine Theologie entwickelt, die sehr stark vom Gedanken des (römischen?) Rechtssystems beeinflußt ist. Dahingehend legt er das AT aus und zieht es als Bestätigung für seine Aussagen heran. Welcher andere der Apostel wäre dazu besser geeignet gewesen als er, der ja „zu den Füßen Gamaliels“ gelernt hat, wenn man dem Bericht der Apostelgeschichte Glauben schenkt.

Röm 8: Mir ist bewußt, daß diese Stelle von evangelikalen Evolutionskritikern meist dahingehend ausgelegt wird, daß der Sündenfall Adams auch die Schöpfung mitgerissen hat - und weiterhin, daß es vorher keine Vergänglichkeit gegeben hätte, daß der Tod erst durch den Sündenfall in die Biologie Einzug hielt. Das ist schon rein aus biologischen Aspekten heraus zumindest fragwürdig - der Tod der Pflanzen zählt etwa nicht? Über die Probleme der Ökologie etc. ist hier nicht zu reden. Die zu diesen Fragen vorgebrachten Lösungsvorschläge4) empfinde ich argumentativ als nicht überzeugend.
Das große Thema ist aber auch in dieser Passage keineswegs die Schöpfung oder der Sündenfall, sondern die Hoffnung des Gläubigen. Gerade der Bezug auf die alttestamentliche Urgeschichte ist ein klares Indiz dafür, daß in der Gemeinde in Rom zumindest ausreichend viele Judenchristen gewesen sein müssen, als daß Paulus hier so argumentieren konnte. Eine Gemeinde aus überwiegend Heidenchristen hätte mit dieser Argumentation nicht viel anfangen können. Paulus nimmt das für seine Hörer (aber nicht notwendigerweise für uns deshalb auch) Selbstverständliche und argumentiert damit. Der Umkehrschluß, aus der paulinischen Argumentation auf die Gültigkeit der Grundlagen seiner Argumentation auch für uns heute zu schließen, ist meines Erachtens nicht zwangsläufig zulässig, zumindest fragwürdig.

2. Petrus

2Petr 3: Geradezu ein Klassiker religiöser Selbstversicherung. Zunächst einmal: „…daß in den letzten Tagen Spötter mit Spötterei kommen werden“ - Aus dem Kontext des Briefes ist klar, daß der Autor davon ausgeht, daß diese Tage schon angebrochen sind. Weiterhin ist klar, daß er hier keine prophetische Aussage trifft, sondern selbst schon (in anderen Gemeinden/Gegenden) mit genau den Aussagen konfrontiert wurde, die er hier beschreibt. Dann der ganz große Rahmen: Einfach mal fix den Anfang und das Ende der Weltgeschichte in den Blick nehmen, dann läßt sich die aktuelle schwierige Lage gleich viel leichter ertragen. Dazu noch der erhobene Zeigefinger, alles genau so, wie man es sich vorstellt. An Überzeugungskraft für den Gläubigen schwer zu überbieten, für den, der nicht eh schon glaubt, dagegen eher nicht. Der läßt sich auch nicht durch die angedrohten Konsequenzen überreden.

Abschließend soll noch auf eine explizit genannte Passage eingegangen werden.

Mt 19,3ff.

Da diese Passage mir gegenüber explizit als einer der (neutestamentlichen) Beweise für die historische Faktizität der Schöpfung genannt wurde, möchte ich mir die Mühe machen, hier näher auf diese Passage einzugehen und aus dem Text heraus zeigen, warum ich diese Auslegung für falsch halte.

Was ich persönlich als wesentlichste Grundlage der Textauslegung gelernt habe, ist die Beachtung des Kontextes. Wenn man sich nicht darüber klar ist, in welchem Kontext die auszulegende Passage steht, kommt man sehr schnell hinsichtlich der Aussageabsicht des Textes in große Schwierigkeiten.

Konkret zu Mt 19: Zunächst beschreibt Mt in den Versen 1 und 2, daß Jesus und die Jünger von Galiläa nach Judäa begibt. Das, was im Folgenden geschildert wird, findet also in Judäa statt, und er ist gerade dort angekommen. Schaut man sich die nachfolgenden Verse 3-12 an, ist das Thema klar: Es geht um Ehescheidung. Noch einmal, um es deutlich zu machen: Es geht um Ehescheidung - nicht um Schöpfung. Die spielt überhaupt keine Rolle für die Aussageabsicht. Die Frage der Pharisäer ist klar: Darf ein Mann sich von seiner Frau scheiden lassen? Die Antwort Jesu ist ebenso klar: Nein, darf er nicht. Aber natürlich waren die Pharisäer nicht dumm, sie hatten natürlich eine Frage gewählt, bei der man ins Stolpern kommen konnte, und zunächst scheint Jesus ihnen diesen Gefallen ja auch zu tun. Sie kontern, daß Mose doch etwas vom Scheidebrief geschrieben habe.

Die Argumentation/Diskussion zwischen Jesus und den Pharisäern läuft immer auf dieselbe Schiene hinaus: Sie kommen mit einer delikaten Auslegungsfrage, er antwortet ihnen immer wieder: „Habt ihr denn nicht gelesen, was geschrieben steht…?“ Natürlich bezieht er sich an dieser Stelle auf Passagen in Gen. Schließlich war das das Feld, auf dem er die Pharisäer schlagen konnte. Was er ihnen hier einmal mehr verdeutlichen will: Sie meinen, die Buchstaben des mosaischen Gesetzes gegen den Geist des Gesetzes ausspielen zu können, und da macht Jesus eben nicht mit.

Die Verse 10-12 werde ich jetzt nicht im Detail auslegen, die spielen für unsere Betrachtung auch keine größere Rolle, außer daß sie noch einmal deutlich machen, daß das Thema der ganzen Passage die Scheidung eines Mannes von seiner Ehefrau ist - und nichts anderes. Daß Jesus hier mit Gen argumentiert, liegt in erster Linie daran, daß die Pharisäer schlecht etwas dagegen sagen können, wenn er ihnen mit der Schrift antwortet - ob sie diese Passagen nun für sich persönlich als autoritativ annahmen oder nicht, sie hatten einen Ruf zu verlieren. Diejenigen, die sich an den Buchstaben der Texte klammerten, waren ja nach den Berichten der Evangelien gerade die Pharisäer.

Deshalb argumentiert Jesus mit der (allen Hörern) gut bekannten Passage aus Gen - weil sie als Autorität von den damaligen Hörern nicht in Frage gestellt wird, und nur deshalb kann er darüber argumentieren. Diese Reihenfolge nun umzudrehen und zu behaupten, durch die Verwendung des Verweises auf Gen könne man der Passage in Gen über die damalige Situation hinaus eine Autorität zumessen, müßte zunächst einmal zusätzlich begründet werden. Beispiele, wo gerade das nicht gemacht wird, sind Passagen aus 2Petr und Jud (2Petr 2,10-11, Jud 9), die definitiv apokryphe Texte zitieren. Sind diese apokryphen Texte deshalb plötzlich kanonisch oder inspiriert? Beschreiben sie tatsächliche, historische Ereignisse? Nach gängiger Lehrmeinung „bibeltreuer Kreise“ nicht. Es ist lediglich der Rekurs auf Passagen, die den Lesern der Briefe wohlbekannt waren, um einen ganz anderen Punkt zu verdeutlichen.

Fazit: Der Verweis auf Mt 19,3ff. als Bestätigung des Schöpfungsberichtes/der Schöpfungsordnung läßt sich argumentativ aus dem Kontext der Passage nicht aufrechterhalten.

1)
Wobei als Quellen hier durchaus auch (oft unbewußte) Vorentscheidungen gemeint sind, so z.B. die Vorentscheidung, die Bibel als Gottes Wort zu verstehen, als im Urtext wörtlich von Gott eingegeben, „irrtumslos“ und „fehlerfrei“.
2)
Der Begriff „Evolutionsbefürworter“ ist unglücklich. Genauer formuliert handelt es sich hierbei um die (große) Mehrheit der Menschen, die Evolution als Erklärung akzeptieren. Das trifft auch auf die überwiegende Mehrheit der Menschen zu, die sich selbst als „Christen“ bezeichnen.
3)
Ein Beispiel für eine durchaus für das praktische (Gemeinde-)Leben relevanten Textpassage, die konträr ausgelegt wird, ist 1Kor 11,20-34, Pauli „Mahnung zum rechten Verhalten beim Herrenmahl“. Unter der Voraussetzung, daß das Abendmahl/Herrenmahl/Brotbrechen im Zentrum des christlichen Glaubens steht, ist es gerade nicht egal, wie man insbesondere die Passage der Verse 27&28 versteht. Gerade die Brüdergemeinden tendieren zu der Auslegung, jeder, in dessen Leben unbekannte Sünde sei, dürfe nicht teilnehmen. Erst einmal steht genau das nicht in dieser Passage, auch wenn sie gerne dafür herangezogen wird. Darüber hinaus scheint diese Auslegung doch in gehörigem Widerspruch zu den sonstigen Passagen gerade des Neuen Testaments zu stehen, die Gott als „Freund der Sünder“ beschreiben und nahelegen, daß es für denjenigen, der Sünde in seinem Leben hat, nur einen Weg geben kann: Hin zu Gott, und nicht möglichst weit weg von ihm. Wo aber kann man im christlichen Verständnis (und zwar unabhängig davon, ob es nun katholisch, protestantisch oder evangelikal ist) Gott näher sein als beim Abendmahl?
4)
vgl.: Reinhard Junker: Jesus, Darwin und die Schöpfung. Warum die Ursprungsfrage für Christen wichtig ist, Hänssler, Neuhausen-Stuttgart, 2001, 36 Seiten
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