Kritischer Rationalismus

Die Position des „Kritischen Rationalismus“ ist eng mit der Person Karl Popper und mit seiner Philosophie, die u.a. in seinem Hauptwerk „Logik der Forschung“ dargelegt ist, verbunden. Der Kritik an und dem Hinterfragen einer Idee kommt nach Popper zentrale Bedeutung zu. Wenn eine Idee jede Kritik übersteht, die wir an sie herantragen können, dann haben wir keinen Grund anzunehmen, daß die Idee nicht richtig ist.

Popper wendet sich klar gegen jegliche Autorität von Erkenntnisquellen. Er erweist einer der Grundfragen der klassischen Philosophie, der ob unsere Erkenntnis auf einer sicheren Grundlage ruht, eine klare Absage: Seiner Ansicht nach gibt es keine solche sichere Grundlage, und sie wird auch nicht benötigt.

Nachfolgend sollen einige der Kernaussagen der von Popper entwickelten Position des Kritischen Rationalismus aus den Quellen heraus aufgeführt werden:

Im Hinblick auf Fehler ist wiedergutmachen wichtiger als vorbeugen; das ist der Kern der Philosophie der menschlichen Erkenntnis, die als Kritischer Rationalismus bekannt ist. Diese Philosophie, obgleich in einigen Punkten von früheren Philosophen vorweggenommen, zum Beispiel von Hume, Kant, Whewell und Peirce, wurde im letzten halben Jahrhundert fast ausschließlich von Karl Popper und einer kleinen Zahl seiner Studenten und Schüler entwickelt. Anders als frühere Philosophien betont sie, daß das Wachstum der menschlichen Erkenntnis auf Vermutungen aufgebaut ist, die der Kritik unterworfen werden. Popper selber schreibt darüber, daß die Erkenntnis sich durch eine Folge von Vermutungen und Widerlegungen entwickelt, von vorläufigen Problemlösungen, die durch kompromißlose und gründliche Prüfungen kontrolliert werden. Im Kritischen Rationalismus gibt es wenig Raum für die ständig im Vordergrund stehenden Sorgen der traditionellen Philosophie: Ruht unsere Erkenntnis auf einer sicheren Grundlage? Und wenn ja, auf welcher? Das ist nicht nur deshalb so, weil in den Augen des Kritischen Rationalismus unser Wissen niemals sicher begrundet, sondern frei geäußert statt fest verankert ist; sondern es ist auch dedhalb so, weil mit der festen Verankerung um nichs auf der Welt etwas gewonnen wäre. Für einen Kritischen Rationalisten ist wichtig, ob die zur Diskussion stehenden Vermutungen richtig sind, und nicht, ob es Gründe gibt anzunehmen, daß sie richtig sind. Wenn eine Vermutung alle Einwände übersteht, die wir gegen sie erheben, dann haben wir auch keinen Grund anzunehmen, daß sie nicht richtig ist. Ebensowenig, sagt der Kritische Rationalist, gibt es Gründe, nicht anzunehmen, daß sie richtig ist: wir können annehmen, was wir wollen, solange es keinen Grund gibt anzunehmen, daß es falsch ist. In diesem Sinne recht zu haben genügt vollkommen, wie Popper das vielleicht als erster ganz deutlich gesehen hat; es genügt für die abstakte Spekulation über das Universum, das wir bewohnen, und auch für das praktische Leben in diesem Universum. Nur höchst selten wissen wir, daß wir recht haben; aber selbst dann brauchen wir das garnicht zu wissen. Karl R. Popper: Lesebuch, hg. von David Miller, Mohr Siebeck, Tübingen, 2. Aufl. 1997, Einleitung des Herausgebers, S. VIII

Die rationalistische Tradition, die Tradition der kritischen Diskussion, ist die einzig praktikable Methode, unser Wissen zu erweitern – natürlich nur unser Vermutungs- oder Hypothesenwissen. Es gibt keine andere Methode. Insbesondere gibt es keine Methode, die von Beobachtungen oder Experimenten ausgeht. Bei der Etnwicklung der Wissenschaft spielen Beobachtungen und Experimente nur die Rolle von kritischen Argumenten. Das ist eine wichtige Rolle; doch die Bedeutung von Beobachtungen und Experimenten hängt gänzlich von der Frage ab, ob sie dazu benutzt werden dürfen, um bestehende Theorien zu kritisieren. Popper, a.a.O., Kapitel 1: „Die Anfänge des Rationalismus“, S. 9; Hervorhebungen im Original

Was sind nun aber wirklich die Quellen unserer Erkenntnis? Ich glaube, die Antwort auf diese Frage lautet: Es gibt Quellen der verschiedensten Art, aber es gibt keine Erkenntnisquelle, die Autorität besitzt. Popper, a.a.O., Kapitel 3: „Erkenntnis ohne Autorität“, S. 31; Hervorhebungen im Original

Die tranditionelle Frage [nach den Quellen unserer Erkenntnis] war und ist noch immer: 'Welches sind die besten Qullen unserer Erkenntnis, die verläßlichsten Quellen – Quellen, die uns nicht in die Irre führen werden und an die wir, wenn wir im Zweifel sind, als eine letzte Instanz appellieren können?' Ich schlage vor, davon auszugehen, daß es solche idealen und unfehlbaren Quellen der Erkenntnis ebensowenig gibt wie ideale und unfehlbare Herrscher, und daß alle 'Quellen' unserer Erkenntnis uns manchmal irreleiten. Und ich schlage vor, die Frage nach den Quellen unserer Erkenntnis durch eine ganz andere Frage zu ersetzen: 'Gibt es einen Weg, Irrtümer zu entdecken und auszuschalten?'. Popper, a.a.O., Kapitel 3: „Erkenntnis ohne Autorität“, S. 32f.; Hervorhebungen im Original

Wie so viele autoritäre Fragen, so ist auch die Frage nach den Quellen der Erkenntnis eine Frage nach der Herkunft. Sie fragt nach dem Ursprung unserer Erkenntnis in dem Glauben, daß die Erkenntnis sich durch ihren Stammbaum legitimieren könne. Die (oft unbewußte) metaphysische Idee, die ihr zugrunde liegt, ist die einer rassisch reinen Erkenntnis, einer unverfälschten Erkenntnis, einer Erkenntnis, die sich von der höchsten Autorität, wenn möglich von Gott selbst ableitet, und der daher die Autorität eines eigenen Adels innewohnt. Meine abgeänderte Fragestellung: 'Was können wir tun, um Irrtum aufzudecken?' ist der Ausfluß der Überzeugung, daß es solche reinen, unverfälschten und unfehlbaren Quellen nicht gibt, und daß man die Frage nach Ursprung und nach Reinheit nicht mit der Frage nach Gültigkeit und nach Wahrheit verwechseln darf. Popper, a.a.O., Kapitel 3: „Erkenntnis ohne Autorität“, S. 33; Hervorhebungen im Original

Die richtige Antwort auf meine Frage: 'Auf welche Weise haben wir Aussicht, Irrtum zu erkennen und auszuschalten?' scheint mir zu sein: 'Durch Kritik an den Theorien und Vermutungen anderer und – falls wir uns dazu erziehen können – durch Kritik an unseren eigenen Theorien und spekulativen Lösungsversuchen.' (Eine solche Kritik der eigenen Theorien ist zwar höchst wünschenswert, aber nicht unerläßlich; denn wenn wir nicht selbst dazu imstande sind, werden sich andere finden, die es für uns tun.) Diese Antwort faßt eine Einstellung zusammen, die man 'Kritischen Rationalismus' nennen könnte. Popper, a.a.O., Kapitel 3: „Erkenntnis ohne Autorität“, S. 33; Hervorhebungen im Original

glossar/kritischer_rationalismus.txt · Zuletzt geändert: 2017/12/09 21:27 (Externe Bearbeitung)