Die Mär von der Evolutionsbiologie als (ausschließlich) historischer Wissenschaft

  • Häufig und gerne wird von Seiten der evangelikalen Evolutionskritik behauptet, die Evolutionsbiologie sei eine rein historische (im Gegensatz zu einer empirischen) Wissenschaft, und daher werde hier der methodische zu einem philosophischen Naturalismus und damit einer ideologischen Vorentscheidung gegen jegliche göttliche Schöpfungsaktivität.
  • Tatsächlich ist seit (spätestens) Darwin das Gegenteil der Fall: Schon Darwins Theorie gründete auf einer immensen Fülle empirischer Daten, ja erst die Kenntnis der empirischen Daten und daraus abgeleiteter Erklärungen führte ihn dazu, seine Evolutionstheorie(n) zu formulieren.
  • Gutes Gegenbeispiel aus einer anderen Disziplin: experimentelle Archäologie.
  • Mittlerweile gibt es auch die „experimentelle Evolutionsbiologie“, siehe u.a. Richard Lenskis Experimente.

Die Entstehung und Geschichte des Lebens kann nicht durch Beobachtung und Experiment erforscht werden. Niemand war dabei, als das Leben entstand oder als der Mensch zum ersten Mal auftrat, gleichgültig wie die Entstehung abgelaufen ist. Die Geschichte des Lebens kann nicht „nachgemacht“ werden; sie ist einmalige Vergangenheit. Daher kann ein naturwissenschaftlicher Beweis dafür, daß es eine Makroevolution gab, prinzipiell nicht erbracht werden. Aus demselben Grund ist auch Schöpfung nicht naturwissenschaftlich beweisbar oder widerlegbar. Reinhard Junker: Die wichtigsten Argumente gegen Makroevolution, 2001.

Dieses Argument läuft letztlich auf ein verdecktes argumentum ad ignorantiam hinaus, da es die generelle Unmöglichkeit eines Unterfangens beweisen will, ohne dazu die notwendigen Möglichkeiten zu haben. Mit dem gleichen Argument könnte man die Geschichtsschreibung aushebeln, da ja meist keiner dabei war, als einzelne Protagonisten ihre Entscheidungen trafen, bzw., auf die Spitze getrieben, letztlich nie in letzter Konsequenz zu beantworten sein wird, was einzelne Menschen zu ihren Entscheidungen bewegte. Andererseits ist das für den Ablauf der Geschichte in letzter Konsequenz nebensächlich.1)

Es ist letztlich wissenschaftlich überhaupt nicht wichtig, die Entstehung des Lebens experimentell wiederholen zu können, um die (Makro-)Evolution hinreichend zu begründen. Sowohl die bislang formulierten konkreten Hypothesen für einzelne evolutive Vorgänge als auch entsprechende rechnergestützte Modellierungen liefern ausreichende Hinweise auf auch heute (und damit im Nachhinein) überprüfbaren Indizien für einen solchen Prozeß. (FIXME Auflisten dieser Indizien)

Frei nach Popper: Wenn eine Hypothese lange genug ausreichend vielen Hinterfragungen und Widerlegungsversuchen widerstanden hat, dann gibt es für uns keinen Grund anzunehmen, daß sie nicht richtig sei. Dabei bleibt festzuhalten, daß diese Widerlegungsversuche sich selbst an gewisse Kriterien und formalen Regeln halten müssen, um ernstgenommen werden zu können. Der bloße Verweis auf „Offenbarung“ bzw. die (einzig richtige?) Auslegung eines Textes2) erfüllt diese Kriterien nicht.

Das ganze Gebiet der Nichtlinearen Systeme/Nichtlinearen Dynamik (Systeme fern eines Gleichgewichtszustandes, chaotisches Verhalten) liefert wertvolle und wesentliche Einblicke in die Möglichkeiten streng deterministischer Prozesse, die doch letztlich (aufgrund der nicht ausreichenden Genauigkeit bei der Bestimmung der Anfangsbedingungen) zu vollkommen unvorhersagbaren Ergebnissen kommen. Davon unbesehen hat die Quantenmechanik zumindest in ihrer momentanen Form sogar noch einen weiteren Schritt unternommen und sich von vollständig deterministischen Systemen verabschiedet. Ob allerdings diese „konstitutive Rolle des Zufalls“ auch auf makroskopischer Ebene eine Rolle spielt, ist nicht zweifelsfrei geklärt.

Gerade vor dem Hintergrund nichtlinearer Systeme und ihres grundsätzlich schwer vorhersagbaren Verhaltens ist der Ruf nach einer Wiederholung der Evolution unter kontrollierten Bedingungen und ständiger Beobachtung letztlich sinnlos. Man kann allenfalls (und das überwiegend wohl auch nur rechnergestützt) Möglichkeiten der Entwicklung aufzeigen, wie das heute schon für Wetter- und Klimamodelle der Fall ist.

Material

1)
In der Geschichte wird man immer mit dem „Unsicherheitsfaktor Mensch“ rechnen müssen, was die Geschichtswissenschaften aber nicht davon abhält, durchaus Strukturen und sogar (wenngleich auch verglichen mit den Naturwissenschaften wohl eher „weiche“) Gesetzmäßigkeiten aus den vorhandenen Daten abzuleiten.
2)
Zur Frage der Hermeneutik und insbesondere der Schwierigkeiten, die mit einer „bibeltreuen“ Hermeneutik einhergehen, vgl. den Essay "Das, was gesagt ist" - Überlegungen zu den Grundlagen der Hermeneutik.
essays/historische_wissenschaft.txt · Zuletzt geändert: 2017/12/09 21:27 (Externe Bearbeitung)